Stadthistoriker Thorsten Mietzner präsentiert den Original-Vertrag, den die acht Bürgermeister vor 50 Jahren bei der Eingemeindung unterzeichnet haben. Foto: Köhler

Vor 50 Jahren sind sieben Gemeinden zu Lahrer Stadtteilen geworden. Eine Reform, die notwendig war und auf breite Zustimmung stieß, erklärt Stadtarchivar Thorsten Mietzner. Die LZ blickt in einer Serie auf die Eingemeindung 1972 zurück.

Lahr - Es war eine Reform historischen Ausmaßes: Die sieben Gemeinden Hugsweier, Kippenheimweiler, Kuhbach, Langenwinkel, Mietersheim, Reichenbach und Sulz wurden am 1. Januar 1972 in die Stadt Lahr eingegliedert. Rund 10 000 Einwohner mussten sich daran gewöhnen, nicht nur "Mietersheimer" oder "Reichenbacher", sondern auch "Lahrer" zu sein. Dennoch: Keiner der Stadtteile hat seine Identität verloren. Vielmehr sahen die meisten Bürger diesen Schritt als notwendig an, erläutert Stadtarchivar Thorsten Mietzner im LZ-Gespräch.

"Es war klar, es kommt eine Reform", beschreibt Mietzner die damalige Stimmung in der Bevölkerung. Die 1960er-Jahre seien eine "reformfreudige Periode" gewesen. Die Menschen hätten Veränderungen seinerzeit besser aufgenommen als heute. So auch die Kommunalreform, die Ende der 1960er-Jahre in Baden-Württemberg in Gang gesetzt wurde.

Hintergrund der Umstrukturierung sei es gewesen, größere Verwaltungseinheiten zu schaffen, die effizienter arbeiten. Zudem hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine stärkere Trennung zwischen Wohnort und Arbeitsplatz entwickelt. Unternehmen zog es in Wirtschaftszentren, die Beschäftigten konnten dank der gestiegenen Mobilität außerhalb wohnen. Viele Gemeinden dienten nun vorrangig als Wohnort und konnten nur noch wenig Gewerbe und Industrie aufweisen. Dadurch fiel es ihnen schwerer, ihre Infrastruktur wie Schulen, Sportstätten oder Straßen zu finanzieren. So auch in Lahr: Die Stadt mit ihrer damals vorherrschenden Industrie diente als Arbeitgeber, die Umlandgemeinden waren "nur noch Schlafplätze", erzählt Mietzner.

Die Eingemeindung selbst verlief weitgehend konfliktfrei, berichtet der Stadtarchivar weiter. Schon in den 1920er- und 1930er-Jahren habe es in einzelnen Ortsteilen Bemühungen zur Eingliederung gegeben. Der Bezug zu Lahr sei in den vergangenen 200 Jahren mit Lahr als Amtsstadt, Arbeitsort und auch als Einkaufsziel am Wochenende immer stärker geworden. Diese Nähe und die Erkenntnis, dass das alte System nicht aufrechtzuerhalten ist, hätten dazu beigetragen, dass die Reform grundlegend positiv aufgefasst wurde, so Mietzner. "Es war nicht das große Thema. Einem Teil war die Identität sehr wichtig, einem großen Teil jedoch war es auch egal, solange es Infrastruktur, Schulen und so weiter im Ort gibt". So sei die Eingemeindung eine schnell beschlossene Sache gewesen.

Schnell klar war im Vorfeld auch, welche Gemeinden sich mit Lahr zusammenschließen sollten. Alle waren zu klein, um eigenständig zu bleiben. Für sechs von ihnen war Lahr sofort die einzig logische Option. Einzig Reichenbach hatte in Erwägung gezogen, sich nicht Lahr, sondern Seelbach anzuschließen. Ob es auch mehr als sieben Stadtteile hätten werden können? Allmannsweier stand kurz zur Debatte, schildert Mietzner. Letztendlich sei es jedoch wichtiger gewesen, dass Allmannsweier Teil einer starken Gemeinde Schwanau würde.

Einen großen Anteil am Zusammenschluss habe der damalige Lahrer Bürgermeister, Philipp Brucker, gehabt. Mietzner bezeichnet ihn als "kommunikatives Genie", der zwar hart verhandelt, aber die Bürger der Ortsteile abgeholt und ihnen das Gefühl gegeben habe, ernst genommen zu werden. Als Beispiel für diesen Einsatz führt Mietzner Bruckers "Tour de Sulz an", als der Bürgermeister mit dem Fahrrad nach Sulz kam und von den Anwohnern gefeiert wurde.

Die Eingemeindung brachte vor allem Vorteile bei der Infrastruktur. Schulen, Verkehrswege oder die Kanalisation konnten zentralisiert leichter geplant werden. Die Stadt Lahr konnte zudem Wohngebiete in den Stadtteilen ausweisen, für die im Stadtgebiet kein Platz mehr war. Die Stadtteile hatten nicht nur den finanziellen Vorteil, sich nicht mehr um ihre eigene Infrastruktur kümmern zu müssen, sie erhielten auch so genannte Eingemeindungsgeschenke in Form von Sportplätzen, Mehrzweckhallen, Kindergärten oder Ähnlichem. "Vieles davon war aber so oder so geplant", relativiert Mietzner die Versprechen der Stadt. Der Prozess der Eingemeindung sei vielmehr dazu genutzt worden, einen Zukunftsplan über Infrastrukturmaßnahmen aufzustellen. Vertraglich festgehalten wurden diese Projekte auch deswegen, damit die neuen Stadtteile sicher sein konnten, im Haushalt nicht unterzugehen und im Vergleich zu den anderen Stadtteilen nicht benachteiligt zu werden, erläutert der Stadtarchivar weiter.

Bis heute seien sich Stadtteile und Kernstadt bei den großen Themen im Gemeinderat größtenteils einig gewesen. Es sei von Seiten Lahrs immer wieder kritisch angemerkt worden, dass die Stadtteile im Gemeinderat überrepräsentiert seien. Dies habe sich jedoch in wichtigen Entscheidungen nie eine Rolle gespielt.

Die Lahrer Zeitung wird in den kommenden Wochen die Perspektive eines jeden Stadtteils zur Eingemeindung 1972 vorstellen. In der Serie wird es darum gehen, wie das Stimmungsbild in jedem Ortsteil vor 50 Jahren war und welche Vor- und Nachteile sich aus dem Zusammenschluss ergeben haben.