Jürgen Louis (Dritter von links) mit anderen Gründungsmitgliedern der Jungliberalen Aktion (JuliA) gut zwei Wochen nach dem Mauerfall im französischen Forbach – eine Reise, die zuvor für DDR-Bürger undenkbar gewesen wäre. Foto: Louis Foto: Lahrer Zeitung

Jahrestag: Rheinhausens Bürgermeister hat als einer der wenigen Westdeutschen den Mauerfall von ostdeutscher Seite aus erlebt

Rheinhausen. In ganz Deutschland wird in diesen Tagen 30 Jahre Mauerfall gefeiert. Zu dem Ereignis, das Ost- und Westdeutschland vereinte, gibt es auch in der Region einige Veranstaltungen. So hat etwa Rheinhausens Bürgermeister Jürgen Louis am Donnerstag im Café de la Vida einen Vortrag dazu gehalten. Im Interview mit dem Kurier spricht er über seine Zeit in der DDR und wie er die Wende erlebt hat und warum es auch heute noch wichtig ist, an den Mauerfall zu erinnern.

Herr Louis, was verbinden Sie persönlich mit dem Mauerfall?

Am 1. November 1989 bin ich zum Jura-Studium in die DDR gegangen. Ich habe damals an der Universität Freiburg studiert und hatte mich im Frühjahr 1989 beim Deutschen Akademischen Austauschdienst in Bonn für ein Stipendium der DDR-Regierung für einen halbjährigen Studienaufenthalt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena beworben.

Die beiden deutschen Staaten hatten zur Aufnahme in die UNO 1972 den Grundlagenvertrag geschlossen. Das vorgesehene Kulturabkommen konnte dann Ende 1986 vereinbart werden. In diesem Kulturabkommen hat sich die DDR verpflichtet, jährlich zehn Westdeutsche für bis zu sechs Monate zum Studium ins Land zu lassen. Im Herbst 1988 konnten die Ersten aus der Bundesrepublik in die DDR gehen. Ich bin dann an Allerheiligen 1989 mit meiner eigens für meine Zeit in der DDR gekauften Citroen Charleston-Ente nach Jena gefahren. Neun Tage später fiel in Berlin die Mauer.

Wie haben Sie den Mauerfall am 9. November 1989 in Jena erlebt?

Ich bin einer der ganz wenigen Westdeutschen, die den Mauerfall von der anderen Seite der Mauer erlebt haben. Im Landesinnern war der Mauerfall so ganz anders als in Berlin. Kein Jubel, keine Euphorie wie wir dies aus den Fernsehbildern kennen.

Am Abend des 9. November war ich bei einer Veranstaltung im Jenaer Stadtzentrum und fuhr gegen halb zehn mit dem Bus zurück ins Studentenwohnheim. Ein Angetrunkener schrie an der Bushaltestelle "Die Mauer ist auf". Reaktion der Wartenden: Stille, fast schon Betroffenheit, sich durch irgendeine Reaktion verdächtig zu machen.

Wie ging es dann weiter?

Am nächsten Tag gab es die Sorge, dass die Mauer nicht lange offen bleiben würde. Würden die Sowjets wie schon 1953 mit Panzern eingreifen, um ihren Staatenblock zusammenzuhalten? Würden die Nationale Volksarmee und die Betriebskampfgruppen den Auftrag erhalten, mit der Schließung der Mauer die staatliche Ordnung wieder herzustellen, nachdem in der Nacht durch die Grenzöffnung in Berlin ein gewisser Druck entwichen war? Zum Glück hat es sich anders entwickelt.

Wie war das Studentenleben in der DDR?

Im Unterschied zu Freiburg begannen an der Uni in Jena die Vorlesungen schon ab 7 Uhr morgens. Dafür gab es so gut wie keine Veranstaltungen in den Abend hinein. An der Friedrich-Schiller-Universität wurden für die DDR Staatsanwälte ausgebildet. Dies bedeutete, dass die Jura-Studenten besonders staatsnah sein mussten, in der Regel waren sie SED-Mitglied und hatten vor dem Studium bereits drei Jahre Militärdienst in der Nationalen Volksarmee geleistet. Alle Jura-Studenten wohnten in einem Wohnheim außerhalb der Stadt in Blockunterkünften zusammen, was den Charakter einer Kaserne hatte.

Mich hatte man zu den Lehramtsstudenten in ein 15 Kilometer entfernt gelegenes Wohnheim gesteckt, mutmaßlich, um allzu enge Kontakte zu den Jura-Studenten zu unterbinden. Bei den Lehramtsstudenten konnte man wohl weniger Unheil anrichten, da diese nicht ganz so linientreu waren.

Wie haben Sie die Wendezeit erlebt?

In meinem Wohnheim gab es einen Studenten, der sich bei der Liberal-Demokratischen Partei engagierte. Gemeinsam haben wir nach 40 Jahren kommunistischer Freier Deutscher Jugend als dem einzigen zugelassenen staatlichen Jugendverband noch vor dem Mauerfall den ersten freien politischen Jugendverband in der DDR gegründet. Die Jungliberale Aktion (JuliA) wurde dann im Sommer 1990 Teil der Jungen Liberalen, die LDPD ging in der FDP auf.

Als DDR-Delegation haben wir im November 1989 am Bundeskongress der Jungen Liberalen in Saarbrücken teilgenommen. Zu siebt hatten wir uns mit Vertretern aus Berlin, Dresden und Jena mit meiner "Ente" und einem "Wartburg" in der Nacht auf den Weg ins Saarland gemacht. Ein großartiges Gefühl für meine ostdeutschen Mitstreiter, nur gut zwei Wochen nach dem Mauerfall auf einen Kaffee ins lothringische Forbach fahren zu können. Vor dem 9. November 1989 war es ihre Lebensperspektive gewesen, bis zum Renteneintritt nur in sozialistische Bruderländer reisen zu dürfen.

Was nehmen Sie mit aus Ihrer Zeit in der DDR?

Die Monate von November 1989 bis April 1990 waren politisch die spannendste Zeit meines Lebens. An einem Tag geschah manchmal mehr als heute in einem ganzen Jahr. Ein Staat löste sich auf, die ganze Welt hat sich in wenigen Monaten verändert. Als junger Student durfte ich vor 30 Jahren im Zentrum des Umbruchs mit dabei sein.

Anfang Mai 1990 bin ich nach Freiburg zurückgekehrt und habe mein Magisterstudium abgeschlossen. Ende 1992 bin ich wieder nach Jena gegangen und habe an meine Zeit 1989/90 angeknüpft. Am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität habe ich über die Geschichte der Liberal-Demokratischen Partei in Thüringen meine erste Doktorarbeit geschrieben, und zwar über die Zeit von der Gründung der Partei 1945 bis zur Zerschlagung ihrer Parteistrukturen 1952 im Zuge der zweiten SED-Parteikonferenz mit dem Beschluss zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR.

Warum ist es wichtig, auch heute noch an den Mauerfall zu erinnern?

Vielen Menschen in Westdeutschland ist bis heute nicht bewusst, welche große historische Leistung der Ostdeutschen es war, auf friedlichem Weg, nur durch Demonstrationen und Friedensgebete nach 40 Jahren absoluter Herrschaft einer Partei ein undemokratisches politisches System in sich zusammenbrechen zu lassen.

Braucht es heute mehr Verständnis für die Biografien der Menschen im Osten?

Zur äußeren staatlichen Einheit, die wir seit Oktober 1990 haben, gehört jedoch auch die innere Einheit. Hier braucht es mehr Verständnis für die Biografien der Menschen im Osten. Es ist unstreitig, dass es den Ostdeutschen in der Summe heute wirtschaftlich viel besser geht als zu DDR-Zeiten. Aber es wird häufig vergessen, dass 40 Jahre DDR für die Menschen im Osten eine andere Lebenswirklichkeit geschaffen haben, die nachwirkt und sich bis heute von den Erfahrungen der Westdeutschen unterscheidet.

Was hat sich durch den Mauerfall Ihrer Meinung nach in der Region geändert?

Südbaden ist die Region in Deutschland, die geografisch am weitesten von Ostdeutschland entfernt gelegen ist. Während fast jeder Ostdeutsche schon einmal im Westen war, ist dies umgekehrt noch lange nicht der Fall. Hier gibt es noch viel Nachholbedarf, die Geschichte und Kultur der neuen Bundesländer noch besser kennenzulernen.

Was hat sich für Sie persönlich durch den Mauerfall am stärksten verändert?

Das Lebensgefühl. Meine Jugend fiel in den 1980er Jahren in die Zeit des Nato-Doppelbeschlusses, der Nachrüstung, Wehrdienst bei der Bundeswehr. Die Konfrontation der Systeme war allgegenwärtig. Eine unmittelbare Kriegsangst gibt es nicht mehr. Dies wird auch in der Region sichtbar: Die französischen Streitkräfte sind aus Freiburg abgezogen, die Kanadier aus Lahr.

Wir in Rheinhausen haben seit 2006 mit der Stadt Wisla eine polnische Partnergemeinde. Europa ist größer geworden, das politische Zentrum hat sich mit der neuen Hauptstadt Berlin nach Osten verschoben. Andererseits bildet sich im Moment mit dem Elsass und der Nordschweiz eine stärke Identität der Region am Oberrhein heraus. Im Sinne eines vereinten Europas ist dies eine sehr positive Entwicklung und wäre ohne den Mauerfall 1989 so wohl kaum vorstellbar.