Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle hat für einen abrupten Gas-Lieferstopp aus Russland eine düstere Entwicklung unter anderem für die Ortenau prognostiziert. Foto: Murat

Mit Sorge blicken viele Bürger und Unternehmen auf das Thema Gas-Lieferstopp. Die Auswirkungen könnten gravierend sein – auch in der Ortenau. Laut Berechnung des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung wackeln im Kreis dann 18 000 Jobs.

Ortenau - Die anstehende Wartung der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 1 – zwischen dem 11. und 21. Juli geplant – setzt die deutsche Politik derzeit gewaltig unter Druck. Die Frage ist: Wird Putin den Gashahn anschließend wieder aufdrehen? Selbst wenn, ist längst nicht klar, wie viel Gas künftig in Deutschland ankommen wird. Hatte Russland doch bereits zuvor die Liefermenge auf lediglich 40 Prozent der eigentlichen Kapazität gesenkt – mit Verweis auf Verzögerungen bei Reparaturen in Folge der aufgrund des Ukraine-Kriegs erlassenen Sanktionen.

Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) hatte bereits im April dazu eine Berechnung angestellt: Sollte es zu einem Lieferstopp russischen Gases in die EU kommen, dürfte demnach – bei ausbleibender Rationierung und den damaligen Füllstand der Speicher zu Grunde gelegt – zum Jahresende das Gas ausgehen. Es wäre mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um rund zwei Prozent zu rechnen. Wie sehr die einzelnen Landkreise davon betroffen wären, lasse sich anhand deren Wirtschaftsstruktur abschätzen, so das IWH (siehe Info). Konkret für die Ortenau sagt die Berechnung einen Verlust von rund 1,17 Milliarden Euro an Bruttowertschöpfung vorher – ein Rückgang von mehr als sieben Prozent. Rund 17 700 Vollzeit-Arbeitsplätze wären betroffen, die entweder abgebaut oder durch Kurzarbeit aufgefangen werden müssten.

Zur Einordnung: Das Statistische Landesamt weist für den Kreis rund 250 000 Erwerbstätige aus (Stand 2019). Im Mai hatten 7500 Ortenauer keinen Job, die Arbeitslosenquote lag bei drei Prozent. Käme es zum schlimmsten Fall, würde sich die Zahl der Arbeitslosen also womöglich mehr als verdreifachen – ein Schreckensszenario.

Speicher mittlerweile zu 60 Prozent befüllt

Dass es so kommen könnte, scheint mittlerweile unwahrscheinlicher. Denn Deutschlands Gasspeicher sind inzwischen zu mehr als 60 Prozent gefüllt, was aus Sicht von Ökonomen die Gefahr einer Versorgungslücke im Falle eines russischen Lieferstopps mindert. Das berichtet die Deutsche Presseagentur mit Verweis auf verschiedene Forschungsinstitute, unter anderem das IWH. Vom Tisch ist eine mögliche Rezession jedoch nicht – bekommen viele Unternehmen doch bereits die Auswirkungen der Krise deutlich zu spüren.

"Derzeit liegen die Vertragspreise für Gas bei mehr als dem Achtfachen des langjährigen Durchschnitts, die Preise für Strom gehen auf das Sechsfache zu", berichtet André Olveira-Lenz, Leiter des Geschäftsbereichs Innovation und Umwelt bei der IHK Südlicher Oberrhein, unserer Zeitung.

Weitere Preissteigerungen sind möglich

Und damit ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht, ist sich der Experte sicher. Sollte Russland auch nach Ende der Wartungsarbeiten die Gasliefermenge dauerhaft reduzieren, könne das eine erneute Kostenexplosion nach sich ziehen. Dann könne noch vor Beginn Heizperiode Paragraf 24 des Energiesicherungsgesetztes ausgerufen werden – die Preissteigerungen könnten dann entweder direkt oder durch eine Umlage an die Endkunden weitergegeben werden. "Unternehmen und private Verbraucher müssen sich also auf deutlich steigende Gas- und vorerst auch Strompreise einstellen", so Olveira-Lenz. "Es sollte also so viel Gas wie möglich eingespart oder substituiert werden."

Doch abgesehen von steigenden Gaspreisen wäre im Winter auch mit erheblichen Auswirkungen auf die regionale Wirtschaft zu rechnen. Da die Industrie und der Mobilitätssektor als "ungeschützte Kundengruppe" in der Abschaltreihenfolge höher sind als andere Gruppen, können Gasengpässe zu einer Drosselung des Gasflusses führen, so der IHK-Experte. "Dies wird in vielen Fällen zu Produktionsausfällen oder -reduzierungen führen."

Für viele Zwecke gibt es keine Alternative

Für viele Wärmeanwendungen in der Produktion sei Erdgas momentan noch unerlässlich und die hoffnungsvolle Alternative Wasserstoff stehe noch nicht in relevanter Menge zur Verfügung. "Produktionsausfälle und Stillstände werden wiederum andere Effekte entlang der Wertschöpfungsketten auslösen, Lieferketten beeinflussen und unter Umständen in eine Rezession münden", konstatiert Olveira-Lenz. Deutschland müsse sich dringend um kurzfristige Alternativen, wie beispielsweise Flüssiggas-Terminals, Diversifizierung der Lieferketten und einen drastisch beschleunigten Ausbau erneuerbarer Stromerzeugungskapazitäten, kümmern.