Ihre Verwandten sind nicht in Sicherheit: Faisal Said und Abdulsalam Shahabi bangen um ihre Familien in Afghanistan. Foto: Schubert

Lahr - In Afghanistan ist die Perspektive für die Zivilbevölkerung düster. Keine ausländischen Soldaten mehr im Land, die Taliban sind zurück. Bei afghanischen Mitbürgern in Lahr wächst die Angst um ihre Angehörigen deshalb ins schier Unermessliche.

Das, was Faisal Said und Abdulsalam Shahabi im Gespräch mit der Lahrer Zeitung berichten, macht Gänsehaut. Seit Tagen hat Shahabi kein Lebenszeichen von seinem 26-jährigen Bruder: "Er hat für die Vereinten Nationen in Afghanistan gearbeitet, für die Nato hat er gedolmetscht. Vier Jahre lang", sagt Shahabi. Er selbst kam 2016 mit seiner Frau und seiner Tochter nach Deutschland, seit 2018 lebt er in Lahr zur Miete. Unaufhörlich versuche er seinen Bruder zu erreichen – Whatsapp, Instagram, Facebook. Vergeblich. Wo er sich genau aufhält, wie es ihm geht, ist ungewiss.

Wer für westliche Organisationen gearbeitet hat, ist vor den Taliban nicht in Sicherheit. Von seiner Mutter weiß der 32-Jährige, dass sich sein Bruder versteckt, irgendwo in einem kleinen Dorf. Doch auch seine Mutter schwebe in Gefahr. Auf der Suche nach dem Bruder könnten die Taliban ihre Wohnung in der Provinz Herat in West-Afghanistan aufsuchen, befürchtet er.

Kaum eine Chance auf Entkommen

Auch der 28-jährige Said ist besorgt. Tagtäglich erhält er Nachrichten und Anrufe aus seiner Heimat: "Auch Leute, von denen ich 20 Jahre lang nichts gehört habe, melden sich bei mir." Ende 2014 kam er nach Deutschland, drei Monate Karlsruhe, dann Lahr. Hier lebt er nun zusammen mit seiner Freundin. Die Gedanken des Studenten, der im siebten Semester Soziale Arbeit in Freiburg studiert, schweifen unausweichlich immer wieder nach Afghanistan, nach Kabul, wo viele seiner Angehörigen wohnen. "Ich weiß, dass meine Familie dort nicht rauskommen wird", sagt er.

Derzeit würden sie alles Mögliche versuchen, um vor den Taliban zu entkommen. "Dass selbst mein Opa mit 80 Jahren fliehen möchte, weil es so unerträglich ist, das hat mich persönlich sehr mitgenommen", berichtet Said, mit 80 wolle man doch eigentlich nur eines: Ruhe. Sein Großvater habe von 2001 bis 2003 bei einer amerikanischen Hilfsorganisation gearbeitet und überlege nun, ein Visum für die USA zu beantragen.

Aber einfach ausfliegen? Jetzt, wo alle ausländischen Truppen aus Afghanistan abgezogen sind, gibt es kaum eine Chance auf Entkommen. Die Taliban werden entscheiden, ob künftig überhaupt noch ausländische Flugzeuge in Afghanistan landen dürfen, sind die beiden sich sicher. Und einfach ins Ausland? Unzählige Binnenflüchtlinge seien unterwegs, doch in eines der Nachbarländer zu gelangen, sei ohne Visum und in Corona-Zeiten eine Sache der Unmöglichkeit. Außer man schließe sich Schleppern an, wie es Shahabis Schwester überlegt: "Sie möchte einen Schlepper bezahlen. 5.000 Dollar, um über die Grenze nach Pakistan zu gelangen", erzählt er.

"Dass die Taliban wieder zurück sind, ist eine Katastrophe", führt Shahabi fort, der in Afghanistan als Journalist nationale und internationale Medien mit Fotos, Reportagen und Videos zum Thema Frauenrechte belieferte. In der Ortenau ist er nun für die Stadt Lahr als Übersetzer für Flüchtlinge im ganzen Kreis tätig, arbeitet außerdem bei Zalando. Täglich stehe er in Kontakt zu Journalisten in Kabul, aber auch in den Provinzen. Seine Kolleginnen vom afghanischen Fernsehsender Tolonews mussten alle fliehen, berichtet er. "Nicht eine konnte bleiben. Die Frauen hätten sich mit einer Burka bekleiden müssen, normale Kleidung sei ihnen unter den Taliban nun nicht mehr gestattet.

24.000 Soldaten waren in Herat stationiert

Seit die Amerikaner 2001 ihren Einsatz in Afghanistan starteten, habe man so etwas wie Demokratie im Land erlebt: "Mädchen durften in die Schule gehen, eine Ausbildung machen, tanzen, Fußball spielen. Es war eine offene Gesellschaft, zumindest in den größeren Städten. In Dörfern oder Kleinstädten war es schwieriger", erklärt Shahabi, der die Situation vor Ort durch seinen Beruf als Journalist sehr gut kennt. 20 Jahre lang habe die Polizei nicht gesagt, "das darfst du nicht, weil du ein Mädchen bist". Mit der Rückkehr der Taliban gehörten diese Errungenschaften jetzt der Vergangenheit an.

Auch der 28-jährige Said hat noch sehr konkrete Erinnerungen aus Kindheitstagen, an das, was es bedeutet unter einem Taliban-Regime zu leben. Von 1996 bis 2001 waren sie an der Macht. Als kleiner Junge sei er auf dem Markt auf einen Holzstock aufmerksam geworden. Zwei abgetrennte Hände seien von der Taliban darauf aufgespießt worden. Sie hätten einem Mann gehört, der beim Diebstahl erwischt worden sein soll. "Das Bild von diesen Händen konnte ich sehr lange nicht mehr aus dem Kopf bekommen", erzählt Said. Aus dieser Erfahrung heraus könne er sehr gut nachempfinden, wie sich die Menschen vor Ort aktuell fühlen müssen.

Warum sich das afghanische Heer gegen die nach Anzahl und Ausrüstung weit unterlegenen Taliban nicht gewehrt hat? Said und Shahabi können nicht glauben, dass es hierbei mit rechten Dingen zugegangen ist. "In Herat waren 24.000 Soldaten stationiert. Sie machen doch nicht das, was die Taliban wollen, nur weil die eine kleine Pistole dabei haben", sagt Shahabi aufgebracht. Zu klären bleibt für beide, wer den afghanischen Soldaten befohlen hat, die Taliban einfach ohne Kampf durchzulassen.

Enttäuschung

"Nach 20 Jahren des militärischen Einsatzes in Afghanistan hätten die westlichen Regierungen besser planen müssen, was mit den afghanische Ortskräften passiert, sobald der Einsatz beendet ist", sagt Shahabi. Man hätte die Ortskräfte registrieren müssen, damit sie für die Ausreise vorweisen können, dass sie für den Westen gearbeitet haben. Stattdessen riskieren sie, von den Taliban verfolgt zu werden.