So sieht ein entspannter Alt-OB aus, ein Jahr nach seinem Rückzug aus dem Lahrer Rathaus: Wolfgang G. Müller sitzt auf der Terrasse seines Gartens, um ihn herum herrlich viel Grün und einige bunte Kunstwerke seiner Frau Elke Oberg, die mit ihren Töpfereien Garten und Haus der Familie schmückt. Foto: Braun

Interview: Was Wolfgang G. Müller in seinem Ruhestand vor die Flinte kommt und was er zur aktuellen Corona-Situation meint

Lahr - 22 Jahre hat Wolfgang G. Müller die Geschicke der Stadt Lahr als Oberbürgermeister gelenkt. Ende Oktober 2019 war Schluss, nicht ganz freiwillig. Eine gesetzliche Altersregelung, die es heute nicht mehr gibt, zwang ihn zwei Jahre vor dem Ende der letzten Amtsperiode in den Ruhestand. Wie geht es ihm, dem Lahrer Ehrenbürger? Was macht der Alt-OB? Wir besuchten ihn zum Interview.

Im Lahrer Rathaus hat er sein Übergangs-Amtszimmer längst abgegeben. Müller empfängt die LZ-Redakteure also in seinem Privathaus. Durch den Flur geht es – vorbei an allerhand Kunstobjekten, Schwarzwald-Motiven, Hirschen und anderem – in die gute Stube, die Küche. Auf dem Nebentisch liegen die drei Tageszeitungen aus Lahr. Die LZ liegt obenauf. Zufall? Kaum zu glauben.

Herr Müller, ist Ihnen langweilig?

(Lacht). Nein, es ist mir nicht langweilig. Sie glauben gar nicht, wie wenig Termine in einen ganzen Tag hineingehen. Es ist eine völlig neue Lebenslage, die ich akzeptiere. Sie wissen, dass ich gerne noch zwei weitere Jahre bis zur Pensionierung gearbeitet hätte, mit 68 Jahren musste jedoch kraft Gesetzes Schluss sein.

Damit habe ich aber meinen Frieden gemacht. Es ist schön, nach einer sehr würdigen Verabschiedung weiter in Lahr zu leben, die Stadt und Region zu genießen, Dinge zu sehen, an denen man über 22 Jahre mitgewirkt hat. Nein, es ist mir nicht langweilig.

Und wie geht es Ihrer Frau, mit Ihnen als Pensionär?

Die Antwort , die ich gebe , ist nicht die meiner Frau (lacht). Jedenfalls mussten wir uns beide umstellen. Ich bin jetzt nicht mehr den ganzen Tag im Büro oder dienstlich unterwegs. Für meine Frau heißt das, dass ihr Ehemann jetzt doch fast jeden Tag zu Hause ist und mitunter im Weg steht.

Die Küche: ein Raum der Kunst, so wie vermutlich alle Zimmer. Müllers Gattin Elke Oberg ist talentierte Töpferin. Ihre fröhlichen Masken, Köpfe und Objekte reihen sich bunt an allen Ecken neben- und übereinan- der, hängen von der Decke, bevölkern die Terrasse.

Wie sieht Ihr Tag aus?

Der erste Unterschied: Ich stehe nicht mehr zwischen 5 und 6 auf, sondern zwischen 6 und 7. Das Schönste in dieser Lebenssituation ist das Frühstück. Man kann ausgiebig Zeitung lesen. Das mache ich natürlich auch abends schon, als e-Paper, aber dann mit Genuss auch am nächsten Morgen.

Ich lese nach wie vor drei Zeitungen. Da drängt nun die Zeit nicht mehr so wie früher. Zwei, drei Tassen Kaffee dazu, das ist dann perfekt. Dann habe ich noch Aufgaben als Kreisrat, als Regionalrat, im Aufsichtsrat der Messe Offenburg sitze ich beispielsweise noch, auch im Mittelstandsbeirat der Volksbank.

Körperliche Betätigung spielt jetzt eine größere Rolle, unser Garten, die bisher nicht gelesenen Bücher – und außerdem räume ich noch immer kräftig auf. Also, kein Vergleich zu früher aber ich bin durchaus beschäftigt.

Der Tisch ist gedeckt. Kuchen einer örtlichen Bäckerei steht auf der Anrichte. Dazu Bio-Haferkekse. Eine Pad-Kaffeemaschine presst frischen Kaffee in die Tassen der Besucher. Müller selbst greift lieber zu seinem Spezialkaffee: Instant-Pulverkaffee von Aldi, "Classic – volles Aroma". Zwei Löffel, heißes Wasser drauf – das Lieblingsgetränk des Alt-OBs.

Wie oft sind Sie im Wald und auf der Heide?

Regelmäßig, zu Spaziergängen.

Und neuerdings auch mit der Flinte?

Sie sind gut informiert! Im September habe ich tatsächlich die Jägerprüfung erfolgreich bestanden. Das waren intensive Monate der Vorbereitung und ich hatte durchaus Respekt vor der Prüfung, gebe ich zu. Allerdings konnte ich das Jagen, die Hege und Pflege noch nicht richtig ausleben. Ich bin ja noch Jungjäger und brauche deshalb erfahrene Begleiter, die mich an die Hand nehmen und mir Tipps geben, beispielsweise mein Schwager. Heute sehe ich die ganze Natur, den Wald noch mal ganz anders, weiß nach dieser Intensivausbildung noch viel mehr um die Zusammenhänge in der Natur, um Bäume, Pflanzen, Tiere.

Den Kaffee gibt es in quietschgelben Tassen. "I love Dole" steht drauf, eine Erinnerung an die vielen Erlebnisse mit der französischen Partnerstadt Lahrs. Im Hause Müller reicht die Verbundenheit mit der Stadtpolitik bis in den Geschirrschrank, in den Alltag hinein.

Fällt es Ihnen schwer, sich nicht mehr ins politische Tagesgeschäft einzumischen?

Ich fühle mich in meiner neuen Rolle nicht unwohl, die Dinge von der Seitenlinie aus betrachten zu können. Von dort aus fühle ich mich aber nicht bemüßigt, beliebig Kommentare zu politischen Themen und Entscheidungen in Lahr abzugeben.

Zum einen hätte ich dazu wenig Grund und zum anderen wäre es nicht sachgerecht und es gehört sich auch nicht, dass der Vorgänger den Nachfolger oder den Gemeinderat von außen kommentiert. Außerdem bin ich Ehrenbürger von Lahr. Und Ehrenbürger können nach meinem Verständnis eine wichtige Rolle in einer Stadt spielen, diese sollte sich jedoch im Allgemeinen nicht auf Fragen der Tagespolitik beziehen.

Im Hause Müller wird äußerst nachhaltig gelebt. Senfgläser, die es früher auch mal in schick gab und für Sprudel prima funktionieren, überdauern offenkundig Jahrzehnte in diesem Haushalt. Greta Thunberg würde sich freuen.

Sind Sie froh oder bedauern Sie, dass der Corona-Kelch als OB an Ihnen vorüberging?

Diese Frage wird mir oft gestellt und viele sind erstaunt, dass ich dann antworte, dass ich nicht froh oder erleichtert darüber bin. Ich hätte es als eine fachlich-professionelle Herausforderung empfunden, in dieser Situation Verantwortung für die der Stadt zu tragen. Nicht, dass ich unbedingt etwas anders oder besser gemacht hätte. Aber ich hätte nicht davor geschreckt, Lahr in dieser Zeit zu führen und Verantwortung zu übernehmen.

Wie sehen Sie die aktuellen neuen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung?

Ich halte die Maßnahmen der Bundesregierung für wohlüberlegt, für abgewogen und angemessen. Ich werde sie natürlich beachten. Allerdings bewegt mich auch der Gedanke, ob es absolut richtig ist, dem Diktat der tagesaktuellen Statistik zu folgen.

Die Gäste zucken zusammen. Von der Wand ruft unvermittelt ein Kuckuck die volle Stunde aus. Keine geschnitzte Klassik-Version einer Kuckucksuhr, sondern eine fetzige moderne.

Haben Sie neue Aufgaben?

Nach wie vor komme ich nicht wirklich schnell durch die Marktstraße, weil ich noch immer häufig angesprochen werde. Das ist schön! Ich werde um Hilfe gebeten, um Einschätzungen, Auskünfte. Auch zum Beispiel in meiner Funktion als Kreisrat, wenn es um die B 3 oder das Krankenhaus geht.

In der Bürgerstiftung bin ich vom Kuratorium in den Vorstand gerückt, also in den aktiveren Teil dieser Einrichtung. Ich sehe, dass die Bürgerstiftung schon heute viel bewirkt, aber durchaus noch wirksamer werden kann. Auch im Zusammenspiel mit dem tradierten Verein des Reichswaisenhauses Lahr 1885. Bei der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft bin ich ebenfalls noch aktiv, jedoch nicht mehr im Vorstand sondern im Kuratorium. Ich wollte Jüngeren in der Führungsebene Platz machen. Und schließlich habe ich mich beim Senior Expert Service für den Beraterpool beworben und bin angenommen worden.

Plötzlich poltert es, von oben. Müller stutzt: "Ist meine Frau schon da?" Doch das sind nur Handwerker, die Müllers gerade das Dach neu decken. Mit speziellen, blauen Dachziegeln.

SES, was ist das für eine Organisation?

Das ist eine Stiftung der deutschen Wirtschaft für internationale Zusammenarbeit, in deren Auftrag Fachleute aus vielen Bereichen ehrenamtlich weltweit im Einsatz sind, um – wie in meinem Fall – beispielsweise Kommunen oder Regionen zu beraten und zu unterstützen. Etwa in Sachen Organisation, Finanzen, Stadtplanung und -entwicklung, Industrie- und Gewerbeparks.

So ganz heimisch ist der Pensionär in der Küche doch noch nicht. Es wird Zeit, den Kuchen anzuschneiden. Müller sucht den Tortenschieber. Schublade auf: nichts. Nächste Schublade: wieder nichts. Die dritte: auch kein Tortenschieber. Doch Müller wäre nicht Müller, wenn er am Ende keine Lösung fände. Ein großes Messer tut’s auch. "Aber bitte nicht meiner Frau sagen", lacht er.

Werden Sie bei der nächsten Wahl wieder als Kreisrat antreten?

Wenn ich bis dorthin gesund bleibe und spüre, dass mir die Aufgabe weiterhin Freude macht, würde ich gerne weitermachen. Ein Leben so ganz ohne Politik kann ich mir noch nicht richtig vorstellen. Das ist ein Feld, in dem ich meine Erfahrung und Überzeugung einbringen kann, für die Ortenau insgesamt und als ehemaliger Lahrer OB natürlich für Lahr.

Welche Schulnote geben Sie Ihrem Nachfolger?

Mit Herrn Ibert pflege ich ein gutes Verhältnis. Ihm will ich ein guter Vorgänger sein. Das heißt vor allem kollegial sein. Schulnoten zu vergeben wäre da völlig unangebracht. Ich will es konkret machen: Wäre heute noch mal zweiter Wahlgang in Lahr, in der Konstellation wie vor einem Jahr, mit Christine Buchheit und Markus Ibert als Bewerber, dann würde ich erneut Markus Ibert wählen.

Nichts Wichtiges vergessen? Müller greift am Ende des Gesprächs zu seinem Zettel, eine Reklamesendung, auf der noch am Rand etwas freier Platz war, als er seine Gedanken für das Gespräch fasste. Da sind seine Stichworte draufgekritzelt. Nichts verschwenden, sparsam sein: Nachhaltige Nutzung von Ressourcen, die kann man beim Alt-OB lernen.

 Fragen von Jörg Braun  und Stefan Maier