Lahr - "Die umliegenden Straßen waren mit Kraftwagen zeitweise nahezu verstopft. Nicht nur die Lahrer waren in Scharen gekommen. Man sah Autos aus Offenburg, Kehl, Emmendingen, Wolfach, Freiburg; sogar aus Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe, Stuttgart, Lörrach und Straßburg kamen Besucher." So berichtete die Lahrer Zeitung am 13. August 1962 über die prekäre Verkehrssituation am westlichen Stadteingang in B 3-Nähe. Der Grund: Dort war Tag der offenen Tür. Endlich konnten Einheimische und andere Neugierige einen der drei neuen hypermodernen Wohntürme am heutigen Kanadaring von innen sehen. Die neuartige Architektur war zuvor nicht nur Dauerthema in den regionalen Medien gewesen, sondern auch in der Stuttgarter Zeitung, der FAZ und dem französischen Figaro einen Bericht wert. 1962 war Lahr en vogue.

Die Zukunft fängt am Stadtrand an

Errichtet wurde der Gebäudekomplex von 1959 bis 1962 mit insgesamt 72 Wohnungen für Offiziere der französischen Besatzungsmacht und deren Familien. Schon seit Mitte der 1950er-Jahre wurde mit einem umfangreichen Bauprogramm aus Bundesmitteln in der Stadt Wohnraum für die Besatzung gebaut, bis 1957 auch noch zu dem Zweck, nach Kriegsende von den Alliierten beschlagnahmte Wohnungen an die ursprünglichen Eigentümer zurückzugeben.

Die neuen Siedlungen entstanden an der Verlängerung der Lotzbeckstraße vom E-Werk aus bis zur B 3. Knapp vor der Bundesstraße, an der Spitze des Kanadarings, wurden die drei Wohntürme gebaut. Die erste Erschließung des Gebiets entlang der Schutter war es nicht: Bei den Grabarbeiten war man auf Reste römischer Bauten und römische Keramik gestoßen.

Da die Verwaltung am westlichen Eingang zur Stadt eine "städtebauliche Dominante" wünschte und das Areal für 72 Wohnungen nicht groß war, entschied man sich für Hochhäuser. Mit dem Projekt betraut wurde der damals knapp 30-jährige Architekt Klaus Humpert vom staatlichen Sonderbauamt Freiburg. Sein unkonventioneller Entwurf: Stahlbeton-Bauten auf je zehn Betonpfeilern mit acht fünfeckigen Geschossen. Diese sind so gegeneinander verdreht, dass die Gebäude fast wie Rundbauten aussehen. An ihren Eckpunkten sind halbüberdachte Balkone: Jede Familie sollte auch einen Außenbereich haben. Aufgrund des fünfeckigen Grundrisses hatten auch die Wohnräume keine rechtwinkligen Ecken – etwas äußerst Ungewöhnliches, damals wie heute.

Modernes Wahrzeichen der Stadt

"Hochhäuser" sind die 24,5 Meter hohen Wohntürme aber genau genommen nicht. Da zu den Bauauflagen für ein Hochhaus ein zusätzliches Sicherheitstreppenhaus gehört, ein solches aber keinen Platz gefunden hätte, unterschritt man knapp die Höhe, ab der ein Haus in Deutschland als Hochhaus gilt. Da die Gebäude aus genormten Bauteilen bestehen, konnte man kostengünstig bauen: In ein und derselben Form wurde zum Beispiel ein Element für die Balkone 150 Mal gegossen. Dass Wohnarchitektur aus Betonfertigteilen in der Gegend noch selten war, belegt der Richtspruch des Zimmermeisters, der ausdrücklich bedauerte, dass keine Dachstühle gebaut werden mussten, aber anerkannte, dass für die Verschalung der Stockwerke "immer noch gute Zimmerleute gebraucht wurden". Die neuartigen Gebäude in Sichtbeton weckten auch bei den Lahrern Skepsis. Man nannte sie damals etwas abschätzig "Franzosen-Silos" oder "Franzosen-Bunker".

Im Verlauf der Bauarbeiten wuchs aber auch die Neugierde. Immer mehr Anfragen gingen bei der Stadtverwaltung ein, ob man die Häuser nicht mal von innen sehen dürfe. Deshalb beschlossen Stadt und Bauamt, sie von 10. bis 19. August 1962 im Rahmen von Tagen der offenen Tür freizugeben. Den Besuchern wollte man dabei nicht nur spröde Beton-Architektur zeigen, sondern ein plastisches Bild davon vermitteln, wie es sich in diesen "Hochhäusern der Zukunft" lebt. Deshalb statteten die Architekten, gemeinsam mit der Freiburger Einrichtungsfirma Werner-Blust, drei der Wohnungen aus, von der Küche und dem Mobiliar bis hin zur Blumenvase. Vor allem wollte man zeigen, dass nichtrechteckige Zimmer auch ohne teure Sonderanfertigungen möbliert werden können.

40 000 Menschen, so berichtete die Presse, sollen bis zum Ende der Schau zur Besichtigung gekommen sein. Man schob sich förmlich durch die Zimmer und das Treppenhaus, Schöner Wohnen und Das Haus berichteten, der SWR sendete zwei Mal von Ort und Stelle. "So haben wir uns das nicht vorgestellt!", wurden begeisterte Besucher zitiert. Mit ihrer zweckmäßigen, zugleich modernen und farbenfrohen Einrichtung hatten die Musterwohnungen den Geschmack der Wirtschaftswunderjahre voll getroffen. Man war jetzt fast ein bisschen stolz auf seine Rundbauten. "Für Lahr bleibt die Genugtuung, dass der Name der Stadt mit diesen Häusern weit bekannt wurde", resümierte die Lahrer Zeitung am letzten Tag der Ausstellung. Bald tauchten die drei Gebäude auch auf Ansichtskarten auf und konkurrierten dort eine Zeit lang – quasi als moderne Wahrzeichen der Stadt – mit dem Storchenturm.

Neuanfang am Kanadaring?

Den Stellenwert, den die drei Wohntürme Anfang der 1960er-Jahre als architektonische Sensation hatten, verloren sie wieder. Zum einen veränderte sich der Zeitgeschmack – und man fand Gebäude in Sichtbeton, vor allem, wenn sie in die Jahre gekommen waren, eher trist als fortschrittlich. Zum anderen war eine nachhaltige Identifizierung Lahrs mit seinen bemerkenswerten Rundhäusern auch deshalb ausgeblieben, weil am Kanadaring immer "die anderen" wohnten, Zugezogene, die hier erst einmal ihren Platz finden mussten und manchmal auch wieder gingen: zuerst Angehörige der vor Ort stationierten französischen Streitkräfte, dann, von 1967 bis 1993, der kanadischen. Danach vergab die Stadt die Wohnungen, in deren Besitz sie bis heute sind, vor allem an Spätaussiedler aus Russland, die nach dem Ende der Sowjetunion Anfang der 90er-Jahre in großer Zahl in Lahr ein neues Zuhause fanden. Bis in die 2010er-Jahre hinein waren im Quartier vor allem einkommensschwächere Familien geblieben, wer in das mittlerweile sanierungsbedürftige Areal zuzog, war meistens Migrantin oder Migrant. Längst haftete dem Kanadaring als Wohngegend ein gewisses Stigma an.

1996 wurden Klaus Humperts Wohntürme als Gesamtkomplex schließlich unter Denkmalschutz gestellt, und zwar aus "architektur-, stadtbau-, nachkriegsgeschichtlichen und heimatgeschichtlichen Gründen", wie das Landesdenkmalamt anmerkte. Ab 2009 wurden die Häuser mit beträchtlichem finanziellem Aufwand saniert.

Nachdem die Bausubstanz für künftige Mietergenerationen gerettet ist, hat sich das Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" nun zur Aufgabe gemacht, die allgemeine Wohnqualität am Kanadaring zu verbessern und auch seinem schlechten Image zu Leibe zu rücken: Mit Modernisierung und Neubebauung soll mehr soziale Vielfalt geschaffen werden, die öffentlichen Räume und die Grünanlage sollen aufgewertet werden. Ein zentraler Platz mit Gastronomie und Geschäften entsteht, auch ein nachhaltiges Energie-und Mobilitätskonzept mit E-Bike-Ausleihstellen und Car-Sharing-Konzept wurden für das neue "Klimaquartier" erarbeitet.

Die Bemühungen hängen auch damit zusammen, dass das Areal unmittelbar an den Bürgerpark der Landesgartenschau Lahr 2018 grenzt. Schließlich will die Stadt bei diesem Großevent glänzen. Gut möglich, dass die drei Rundhäuser nach über einem halben Jahrhundert dann auch wieder mal auf einer Ansichtskarte zu sehen sind.

Info: Die Häuser mit den fünf Ecken

Warum mussten es eigentlich praktisch runde Häuser sein? Nun, Architekt Klaus Humpert hatte die Vorgabe, pro Geschoss zwei Dreizimmer-Wohnungen mit je zwei Balkonen und eine Zweizimmerwohnung mit einem Balkon einzuplanen. "Ich brauchte also fünf Balkone pro Geschoss – und das ergibt halt ein Fünfeck", erklärt Humpert. Ein ausführliches Interview mit dem Architekten veröffentlichen wir in der morgigen Ausgabe der Lahrer Zeitung.