"Ich bin ein normaler Mensch": Wolfgang Schäuble empfing die Redakteure Marco Armbruster (links) und Felix Bender zum Interview – und Kaffee – auf der Terrasse seiner Offenburger Wohnung. Foto: Decoux

Wolfgang Schäuble ist ein Urgestein des deutschen Bundestags. Vor seinem Geburtstag stellte er sich den Fragen unserer Redaktion.

Offenburg - 80 Jahre wird Wolfgang Schäuble (CDU) am 18. September. Seit fast 50 Jahren sitzt er im Bundestag. Im Gespräch mit unserer Redaktion blickt der Offenburger (Ortenaukreis) auf seine einmalige Polit-Karriere zurück, in der er nahezu jedes wichtige Amt begleitet hat – und die nach dieser Legislaturperiode endet. Nach Ruhestand klingt Schäuble freilich nicht, wenn er auf die aktuellen Geschehnisse in Deutschland und Europa blickt.

Herr Schäuble, stimmt es, dass Sie sich gegen den Wunsch ihrer Frau um ihr erstes Bundestagsmandat beworben haben?

Es war jedenfalls nicht so geplant.

Wie kam es trotzdem dazu?

Es waren vorgezogene Bundestagswahlen, weil die Regierung Brandt ihre Mehrheit verloren hatte. Der langjährige Offenburger Abgeordnete Hans Furler hatte angekündigt, nicht mehr zu kandidieren. Da kam eines Abends der Anruf von der Jungen Union: "Wir haben in drei Wochen Nominierung und haben keinen eigenen Kandidaten. Das geht ja gar nicht." Ich war Vorsitzender der Jungen Union in Südbaden. Also hieß es, der Schäuble soll’s machen.

Und der hat’s dann gemacht …

Ich sagte mir, und übrigens auch zu meiner Frau: Das klappt ja sowieso nicht, ich kann aber immerhin mal Flagge zeigen. Es klappte dann aber halt doch.

Statt einer Karriere als Rechtsanwalt gab es eine einmalige in der Politik.

Könnte man so sagen. So denkt man am Anfang aber nicht. Für einen jungen Menschen, der politisch interessiert ist, ist das Amt des Abgeordneten zunächst einmal vor allem eins: faszinierend. Da will man dann nicht mehr raus. Geplant habe ich meine Karriere aber nicht.

Als Sie am 12. Oktober 1990 zwei Schüsse eines Attentäters trafen, waren Sie Innenminister. Wie nah waren Sie damals dran, sich aus der Politik zu verabschieden?

Erst einmal war ich nah am Tod. Wenn man bewegungsunfähig im Bett liegt und durch einen Strohhalm ernährt wird, weil man den Mund nicht mehr aufkriegt, hat man andere Sorgen. Aber ich hatte im Gegensatz zu vielen anderen Querschnittgelähmten das Glück, meinen Beruf weiter ausüben zu können. Und der Kanzler sagte: "Sie können auch im Rollstuhl Innenminister sein."

Sie waren nach sechs Wochen schon wieder zurück.

Ja, da war nicht unbedingt die Vernunft die Triebfeder. Da meine Wahlversammlungen ausfallen mussten, hatten Helmut Kohl und Lothar Späth für Donnerstag, den 29. November, eine Kundgebung in Offenburg angekündigt. Da wollte ich dabei sein. Es sollte aber nicht heißen: Der kommt direkt aus dem Krankenhaus zum Wahlkampf. Also bin ich vorher mit dem Hubschrauber zu einer Kabinettssitzung – nämlich der am Mittwoch – geflogen. Irgendwann sagte mein Arzt im Krankenhaus, ich soll mir eine gute Pflegekraft nehmen und gehen, ich sei ja ohnehin kaum noch da. Die Reha war nicht so wie sie sein sollte.

Wurden Sie als Behinderter anders behandelt?

Eine Sache ist mir in guter Erinnerung. Im Januar nach dem Attentat musste ich Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst führen. Da kam die Gewerkschaftsvorsitzende Monika Wulf-Mathies auf mich zu und sagte, sie wisse, dass ich nicht in der Lage sei, nächtelang durch zu verhandeln. Doch sollten die Beschäftigen nicht denken, sie bekämen 0,5 Prozent weniger Lohnerhöhung, weil der Schäuble im Rollstuhl sitzt. Wir haben dann gemeinsam eine gute Lösung gefunden. Das rechne ich ihr hoch an. Ansonsten habe ich immer gesagt, dass ich nicht anders behandelt werden will als andere, weil ich kein besserer oder schlechterer Mensch bin.

Welche politische Rolle lag Ihnen mehr: die als Kanzleramtschef, Innen- oder Finanzminister?

Den Fraktionsvorsitzenden haben Sie vergessen.

Und den Bundestagspräsidenten.

Genau. Alle Ämter hatten ihren Reiz, da kann ich keinen Favoriten benennen. Aber um Ihnen eine Antwort zu geben: Die Zeit der Wiedervereinigung war der Höhepunkt in meiner politischen Karriere. Zu dieser Zeit war ich Innenminister.

Wer ist eigentlich in Ihrer Ehe der Finanzminister?

Ich. Viel mehr kann ich zu Hause ja nicht tun. Bankkonto, Versicherungen – das liegt mir. Ich bin ja auch Beamter der Steuerverwaltung, natürlich jetzt a. D.

Für was haben Sie privat Schulden aufgenommen?

Für unser Haus. Sonst wurde nur so viel ausgegeben, wie reinkam. Ab und zu wurde vielleicht mal der Überziehungskredit bei der Bank in Anspruch genommen. Aber nie dramatisch. Dazu muss man fairerweise aber auch sagen: Wir waren nie arm.

Beim Staat steht die Schwarze Null schon eine Weile nicht mehr…

In einer so außergewöhnlichen Zeit wie jetzt kann der Staat natürlich nicht mit einem ausgeglichenen Haushalt operieren. In normalen Zeiten aber sollte er nicht mehr ausgeben, als er einnimmt. In einer Situation, in der die Wirtschaft nicht richtig läuft, muss der Staat sie ankurbeln. Das erlaubt die Schuldenbremse ausdrücklich. Entspannt sich die Lage wieder, muss man zu einem ausgeglichenen Haushalt zurückkehren – das habe ich als Finanzminister getan.

Zuletzt gab es einige Entlastungen für die Bürger...

... die nicht alle zu Ende gedacht waren. Die Idee des Tankrabatts finde ich falsch. Wir haben eine saftige Inflation. Die kann man nicht dadurch bekämpfen, dass der Staat sie ausgleicht – damit heizt er sie nur weiter an. Wenn die Dinge knapper und teurer werden, dann muss man damit sparsamer umgehen. Natürlich muss man Menschen mit geringeren Einkommen aber im Sinne des Sozialstaats helfen.

Im Jahr 2017 verließen Sie die Regierungsbank und wurden Bundestagspräsident: Wie schwer fiel Ihnen mit 75 Jahren der Wechsel vom Macher zum Moderator?

Daran musste ich mich erst gewöhnen. Hat dann aber gut geklappt.

Im aktuellen Bundestag sind sie nur noch Abgeordneter. Grämt Sie das?

Ich kann das Wort "nur" absolut nicht leiden. Abgeordneter zu sein, ist eine hohe Verantwortung! Um die Frage zu beantworten: Nein, wieso auch? Ich habe als Bundestagsabgeordneter angefangen und bin es nun wieder. Man könnte sagen, dass sich ein Kreis schließt.

Sie sind fast 50 Jahre Mitglied des Bundestags – so lange wie kein anderer. Was empfinden Sie dabei?

Dankbarkeit. Wobei es manchmal schon merkwürdig ist: Ein großer Teil der Mitglieder des Bundestags war noch nicht geboren, als ich schon Abgeordneter war. Man wird damit auch zum Sonderfall.

Inwiefern?

Ich bin kein normaler Abgeordneter, sage ich immer. Ich mache nicht mehr viele öffentliche Auftritte. Ich gehe in die Sitzungen der Bundestagsfraktion und der CDU-Landesgruppe, sage meine Meinung aber in der Regel nur, wenn ich danach gefragt werde. Sonst versuche ich, nicht ständig ungebetene Ratschläge zu geben, denn: Natürlich glauben die Alten – ich auch – meist, es besser zu wissen.

Ihr einziger Duz-Freund im Bundestag ist Friedrich Merz. Fühlen Sie sich manchmal einsam im Plenarsaal?

Ja, manchmal schon.

Ist der Ruhestand eigentlich kein Thema für Sie?

Ruhestand? Ich weiß nicht, was das ist. Es ist meine letzte Legislaturperiode – das ist klar! Ich will mein Mandat aber, solange es mir meine Gesundheit erlaubt, auch wahrnehmen.

Ihre Frau hat uns Kaffee gekocht. Haben Sie bewusst darauf geachtet, bodenständig zu bleiben?

Wir haben nicht darauf achten müssen. Ich habe eine besondere Verantwortung, das ist richtig. Aber ansonsten bin ich ein normaler Mensch.

Gibt es etwas, was Sie in der Rückschau anders machen würden?

Ja, klar. Im Nachhinein sieht man manches anders.

Wenn wir jetzt das Wort "Spendenaffäre" in den Mund nehmen, bitten Sie uns dann zu gehen?

Nein, wieso denn? Dazu ist alles gesagt. Ich habe wie jeder, der in eigener Angelegenheit tätig ist, auch Fehler gemacht. Deswegen sollte ein Anwalt sich nie selbst vertreten, wie sich etwa Ärzte auch nicht selbst behandeln sollten.

Damals ging Ihr Verhältnis zu Helmut Kohl in die Brüche.

Ich bin ihm nicht böse, ich verdanke ihm zu großen Teilen meine politische Karriere. Aber unsere Freundschaft fand durch die Spendenaffäre ein Ende.

Haben Sie sich wirklich nie versöhnt?

Ich bin immer wieder darauf angesprochen worden, wie gerne sich Kohl versöhnen würde. Auch Karl Kardinal Lehmann – der uns beide kannte – versuchte, zwischen uns zu vermitteln. Als Christ müsse ich Kohl doch vergeben können, hatte er an mich appelliert. Ich habe ihm damals erklärt, dass ich mich nicht mit ihm aussprechen kann, weil das den nächsten Krach geben würde. Kohl hätte nicht eingesehen, dass er mir Unrecht getan hat – das hat dann auch Kardinal Lehmann verstanden.

Energiekosten explodieren, die Inflation ist schwindelerregend hoch – mit Ihrer langjährigen Erfahrung: Schaffen wir das?

Ja.

Was macht Ihnen Mut?

Dass es uns offenbar noch sehr gut geht. Solange eine Nachfolge-Lösung für das Neun-Euro-Ticket oder ein Streik der Lufthansa-Piloten unsere größten Probleme sind, haben wir offensichtlich noch viel Spielraum. Und wenn es uns mal eine Zeit lang nicht so gut gehen sollte, schaffen wir das auch.

Also alles nicht so tragisch bei uns?

Schauen Sie: Im Augenblick sterben in der Ukraine Menschen, unter einem Angriff Putins, der sich auch gegen unsere freiheitliche Ordnung richtet. Als Reaktion darauf führen wir zwar keinen unmittelbaren militärischen Krieg, aber einen Wirtschaftskrieg, der zum Ziel hat, Putin zum Einlenken zu bringen. Der reagiert entsprechend. Aufgabe der Politik ist es jetzt, den Menschen deutlich zu machen, dass unser materielles Wohlergehen nicht das allein Entscheidende ist.

Worauf kommt es also an?

Die Frage ist, ob wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt schaffen können, den es braucht. Und ob wir die Menschen überzeugen können, dass Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat so wichtige Werte sind, dass wir sie unter allen Umständen verteidigen wollen.

Wie groß ist der Schmerz, noch einen Krieg in Europa erleben zu müssen?

Furchtbar groß. Frau Kramp-Karrenbauer hat das im Februar gut ausgedrückt: Ich bin so wütend auf uns, hat sie gesagt. Wir haben alles gesehen und alles gewusst – und haben es nicht glauben wollen. Ich bin auch wütend auf mich. Wieso habe ich beim russischen Einsatz in Tschetschenien nicht schon begriffen, dass das, was sie unter Terrorbekämpfung verstehen, nicht in unserem Sinne ist? Wir hätten es viel früher sehen können. Aber als Demokratie können wir aus unseren Fehlern lernen – Karl Popper hat immer Recht.