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"Mit 66 Jahren", sang Udo Jürgens im zarten Alter von 43, "da fängt das Leben an." Würde er heute behaupten, dass es mit 75 so richtig losgeht, man würde ihm das auch abnehmen - So wie der Mann aussieht!

Stuttgart - "Mit 66 Jahren", sang Udo Jürgens im zarten Alter von 43, "da fängt das Leben an." Würde er heute behaupten, dass es mit 75 so richtig losgeht, man würde ihm das auch abnehmen. Bemerkungen über einen Künstler, der einfach nicht alt werden will.

Als der Sänger und Komponist Udo Jürgens neulich ins Hamburger Hotel Atlantic geladen hat, um ein neues Album mit seinen alten Schlagern vorzustellen, wartete er nicht, bis einer der Pressevertreter das Wort an ihn richtete. "Ich habe nicht die Absicht zu heiraten", sagte Udo Jürgens, "um gleich mal die wichtigste Frage zu beantworten." Ein paar Tage vorher hatte er via "Bild" verlauten lassen, dass er sich mit seiner Ex-Frau Corinna Reinhold versöhnt habe und man sich hin und wieder zum Essen treffe. Seither brodelte es in der Gerüchteküche.

Nach gut 50 Bühnenjahren weiß der Künstler Udo Jürgens, was die Welt von ihm hören will. Nicht nur musikalisch. Und er weiß auch, was sie keinesfalls von ihm hören will. Etwa, dass Frauen ab 40 Jahren kein Interesse mehr an Sex haben. Ebenjene Behauptung hatte das Fachblatt für Zwischenmenschliches der gehobenen Stände dem Musiker im März des Jahres 2005 in den Mund gelegt und auf der Titelseite abgedruckt. Jürgens war damals gerade in Stuttgart, um die Premiere des Musicals "Elisabeth" zu besuchen, für das sein Freund und Texter Michael Kunze ("Ein ehrenwertes Haus", "Griechischer Wein") das Libretto geschrieben hatte. Wir trafen am Morgen nach der Aufführung auf einen geknickten Star. Nie hat man den Künstler so düster dreinschauen sehen. Nicht mal bei noch so nachdenklichen Liedern.

Er würde sich gern für die Behauptung entschuldigen, sagte Jürgens, aber er könne sich schwer für etwas entschuldigen, das er nicht gesagt habe. Im Gespräch wurde die Düsternis von Wut verdrängt. "Diese Art von Journalismus, der einfach darauf angelegt ist, Auflage zu machen und Menschen vorzuführen, der regt mich auf. Ich werde mich mit solchen Leuten in Zukunft wohl nicht mehr unterhalten." Inzwischen spricht man wieder miteinander. Lädt anlässlich des bevorstehenden 75. Geburtstags am 30. September sogar zum Exklusivinterview ins schmucke Wohnzimmer nach Zürich-Zumikon ein. Jürgens ist zu lange Profi. Er weiß, dass man nicht nur mit Ex-Gattinnen versöhnliche Gespräche führt.

Doch verlassen wir den Boulevard und richten wir unser Augenmerk auf den Ehrenhof vor dem Stuttgarter Neuen Schloss. Der oben beschriebene Vorfall vom März 2005 liegt ein paar Monate zurück, ist also verjährt. Auf der Bühne sitzt, von der abendlichen Junisonne und Scheinwerfern beschienen, ein Mann am schwarzen Flügel. Kein Orchester weit und breit, das ihm auf die Sprünge helfen könnte. Da der Abend schon fortgeschritten ist, hat der Mann sein Sakko abgelegt. Er trägt eine schwarze Hose, und sein weißes Hemd ist so weit aufgeknöpft, dass niemand auf den Gedanken kommen kann, der Künstler werde von einem Hüfthalter in Form gehalten. Der Sänger Udo Jürgens, damals 70, gehört zu jener seltenen Spezies Mann, die mit den Jahren immer mehr gewinnt, nur an Körperfülle nicht.

Und ewig lockt die Sangeskraft

Seit gut zwei Stunden hat Jürgens auf der Bühne das getan, was er vermutlich am besten kann: Er hat gesungen. Und dazu Klavier gespielt. Jürgens gab den Nachdenklichen, den Verletzlichen, den rechtschaffenen Melancholiker. "Ich würde es wieder tun", "Es lebe das Laster", "Jetzt oder nie" hat der Mutmacher seinem Publikum entgegengeschleudert. Und er hat seine großen Schlager zelebriert, die so zahlreich sind, dass er sie nur noch im Potpourri unterbringt. Er weiß, was er seinem Publikum schuldig ist. Wie alle großen Unterhalter ist der Sänger auch Dienstleister.

Der wohlklingenden Aufmüpfigkeit des Mannes, der sich selbst ein "unstillbares Harmoniebedürfnis" bescheinigt, entkommt an diesem Sommerabend auf dem Schlossplatz niemand. Udo Jürgens scheint zum Greifen nah - und doch so fern. Ein Entertainer, der es schafft, mit einem Soloprogramm so viel Kraft zu verströmen, der darf auch "Lass uns die Sonne fangen, dem Glück in die Bluse langen" singen - und kann sich sicher sein, dass man sein Eintrittsgeld nicht zurückverlangt.

Wer das Massenphänomen Udo Jürgens ergründen will, der kommt an dessen Stimme nicht vorbei. Ihr konnten die Jahre so wenig anhaben wie dem Rest vom Mann. Als der Jazzpianist und Musikjournalist Michael Naura Mitte der neunziger Jahre für eine "Spiegel"-Reportage Jürgens interviewte und bei Proben mit der erstklassigen Band des Schweizer Saxofonisten Pepe Lienhard dabei sein durfte, stimmte der Kritiker einen wahren Lobgesang auf den Sänger an: "Das ist keiner, der morgens auf Knien liegt, um Gott für die Erfindung von Mikrofon und anderen Effektgeräten zu danken. Der Kerl hat Stimme. Nie absackende Intonation. Fesselnde Dynamik. Der Mann hat Hoden."

Nicht jeder behält bei Udo Jürgens' Sangeskraft einen so klaren Kopf wie der Jazzexperte Naura - am wenigstens das überwiegend weibliche Publikum, das spätestens nach einer Stunde zur Bühne strömt und dem Künstler zu Füßen liegen würde, wenn dort genug Platz wäre. Selbst respektable Journalistenkollegen lassen sich ob dieser Massenpsychose zu Äußerungen hinreißen, die sie vielleicht besser nie geschrieben hätten: "Er formt aus Emotionen Badewannen, in die er mit beachtlicher Sicherheit Töne träufelt, die Behaglichkeit erzeugen und - ja - auch Schaum."

Schaum mer mal, was die Wissenschaft zum Phänomen Udo Jürgens meint. Der deutsche Sexualaufklärer Günther Hunold kam, nachdem er glaubte, in die Tiefen des Jürgens'schen Werks eingedrungen zu sein, zu folgender Erkenntnis: "Die erotische Dynamik der stilbildenden Triolen des Udo Jürgens vermittelt den weiblichen Zuhörern einen pausenlosen Orgasmus."

Und ewig lockt die Sangeskraft

Gut, die Begeisterung bei Udo-Jürgens-Konzerten ist groß, sehr groß sogar - und zwar nicht erst von dem Moment an, an dem der Künstler im weißen Bademantel auf die Bühne zurückkehrt und Zugaben gibt. Ob sie aber so groß ist, das entzieht sich unserer Kenntnis.

Halten wir uns lieber an die Fakten. Der Sohn eines Klagenfurter Gutsbesitzers, der als Udo Jürgen Bockelmann zur Welt kam, machte seine ersten musikalischen Gehversuche im Alter von fünf Jahren mit der Mundharmonika, sattelte mit sieben aufs Akkordeon um und landete schließlich beim Klavier. Als Schüler des Klagenfurter Realgymnasiums studierte er von 1947 bis 1955 Klavier, Gesang und Kompositionslehre am Konservatorium. Bereits in den frühen 50er Jahren legte der Musiker seinen bürgerlichen Nachnamen Bockelmann ab, nannte sich Udo Bolan und tingelte mit einer Jazz- und Tanzmusikformation durchs Alpenland. Bevor Udo Jürgens selbst als Künstler im Rampenlicht beachtet wurde, schrieb er 1960 seinen ersten Welthit, "Reach For The Stars", gesungen von Shirley Bassey.

Die Karriere des Interpreten Udo Jürgens begann im Jahr 1961, als er mit dem späteren Volksmusikvermarkter Hans R. Beierlein anbandelte. Kein Halten gab es, als Jürgens, es war sein dritter Anlauf, 1966 beim Grand Prix Eurovision de la Chanson mit "Mercie Chérie" auf dem Siegertreppchen stand, für Österreich. Fortan galt Jürgens als erste Sahne im deutschsprachigen Musikgeschäft und wurde 1969 in einer Umfrage als eines der beliebtesten Idole der deutschen Jugend ermittelt - gleich hinter den toten Kennedy-Brüdern.

Und ewig lockt die Sangeskraft

In den Siebzigern, als sich so mancher Querdenker auf den langen Marsch durch die Institutionen begab, entdeckte Udo Jürgens sein Faible für kritisches Liedgut. Das Interessante daran war, dass hier kein zorniger, zottelmähniger Jünger mit Klampfe stand, sondern ein stets korrekt gekleideter Herr am Flügel saß, der sich wohlerzogen empörte. In "Ein ehrenwertes Haus" prangerte er die Bigotterie an, in "Griechischer Wein" forderte er Respekt für Gastarbeiter ein. Richtig Zoff gab es 1988, als Jürgens in "Gehet hin und vermehret Euch" die Bevölkerungsexplosion geißelte und sich den Zorn der katholischen Kirche und diverser öffentlich-rechtlicher Anstalten zuzog.

Um eine Karriere wie der Österreicher hinzulegen, der inzwischen auch die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzt, gehört neben Talent auch Glück. Dennoch drängt sich der Verdacht auf, dass Udo Jürgens das Pech hatte, mit der falschen Muttersprache geboren zu werden. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich den Mann am Flügel als Weltstar vorstellen zu können. Jürgens selbst kann es wohl auch und erzählt immer wieder gern die Geschichte von Frank Sinatra, dem Idol seiner Jugend. In den achtziger Jahren hatte Jürgens für den Amerikaner "If I Never Sing Another Song" geschrieben. Dummerweise nahm The Voice in der Zeit keine Platten auf. Irgendwann gab Sinatra seinem Kollegen Sammy Davis junior die Noten mit den Worten "Come on, I have a great song for you". Sammy Davis junior beendete fortan mit "If I Never Sing Another Song" seine Konzerte.

Wer immer noch Zweifel an Udo Jürgens' Sangeskünsten hegt, dem sei die Interpretation von "Ich war noch niemals in New York" der Band Sportfreunde Stiller ("'54, '74, '90, 2006") ans Herz gelegt. Die Sache hätte als harmloser Spaß abgetan werden können - bis zu jener Stelle, an der Udo Jürgens' Stimme auftaucht. In dem Moment wird klar, dass das, was die Sportskameraden tun, mit Singen wenig zu tun hat.

Die Frage übrigens, wie lange Udo Jürgens noch auf Tour gehen will, beantwortet sich von selbst. Konzerte, hat er mal gesagt, seien für ihn wie eine Therapie. Solange er sich selbst therapieren kann, gibt es keinen Grund, damit aufzuhören.