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Der Lahrer Schriftsteller Michael Paul wagt einen ungewöhnlichen Selbstversuch

Vorsichtig ertastet Michael Paul mit den Fingern die Öffnung der Kaffeemaschine, in die er die kleine Kapsel mit Pulver legen muss. Wenn der 53-Jährige zurzeit Kaffee machen möchte, muss er sich stärker konzentrieren als sonst. Der Lahrer ist fast blind – für genau acht Tage. In dieser Zeit wagt er ein ungewöhnliches Experiment: Eine mit Folie speziell präparierte Arbeitsschutzbrille sorgt dafür, dass er eine Restsehschärfe von etwa zwei Prozent hat. "Ich sehe ein Bild wie ein Mosaik", erklärt Paul, während er eine Tasse unter die Düsen der Kaffeemaschine stellt. "Und ich kann Farben und Konturen erahnen." Er beugt sich über die Maschine. "Jetzt zum Beispiel sehe ich, dass sie blinkt", sagt er und richtet sich wieder auf.

Recherche der anderen Art

Am vergangenen Freitag um 22 Uhr startete der Selbstversuch, als er die Brille aufsetzte. Bis zum morgigen Samstag lässt er sie auf. Die Simulation macht er aber nicht zum Spaß, sie ist Teil der Recherche für sein neues Buch. Paul ist – neben seinem Hauptberuf als selbstständiger Unternehmensberater – Schriftsteller. Sein dritter Roman soll von einer Ermittlerin handeln, die durch einen Unfall ihr Augenlicht verliert.

Trainerin gibt Tipps

"Ich wollte mich dem Thema emotional nähern und ein Gefühl dafür kriegen, wie blinde Menschen handeln und fühlen", erläutert er. Begleitet wird das Experiment von einer Augenarztpraxis und von der Mobilitäts- und Orientierungstrainerin Kerstin Oetken aus Freiburg. Normalerweise schult sie blinde und sehbehinderte Menschen. Nun bereitete sie Paul auf die acht Tage vor – allerdings auch nicht zu konkret. Was die Woche über passierte, wusste nur Oetken. "Jemand, der plötzlich erblindet, hat auch keine Möglichkeit sich vorzubereiten", sagt Paul.

Der Kaffee ist mittlerweile fertig. Langsam tastet sich Paul an der Kante der Küchenzeile entlang zur Tür. "Ich muss mir immer Leitlinien suchen", sagt er, während er langsam durch den Flur und die nächste Tür in das Esszimmer geht. Seine beiden Hündinnen Leila und Luna, beide acht Jahre alt, weichen ihm gekonnt aus. Sie scheinen zu spüren, dass mit "Herrchen" etwas nicht stimmt. "In diesem Raum zum Beispiel ist der helle Teppich die Leitlinie. Er führt mich genau zu einem Stuhl", erklärt Paul.

Solche Tricks sind es, die Oetken ihm beigebracht hat, damit er im Alltag zurechtkommt. Im Gegensatz zum Anfang des Selbstversuchs, als er schon mal mit dem Kopf gegen eine Wand oder mit dem Schienbein gegen das Schuhregal geprallt sei, könne er sich im Haus mittlerweile ganz gut orientieren. "Das Abenteuer beginnt, wenn ich vor die Tür gehe", sagt Paul und setzt sich an den großen Holztisch.

Einsamkeit aushalten

Erst am Mittwoch habe ihm Oetken eine "Höllenaufgabe" gestellt, wie er erzählt: Bananen kaufen im Supermarkt. Eigentlich liegt dieser nicht weit von seinem Haus entfernt. "Ich habe aber insgesamt zwei Stunden gebraucht", berichtet der 53-Jährige. Am Dienstag und Mittwoch simulierte er, komplett blind zu sein. "Da muss man sich noch mehr konzentrieren als ohnehin schon." Nach diesem Ausflug sei er entsprechend erschöpft gewesen. Alleine gehe er nie nach draußen. "Das wäre zu gefährlich."

Aber nicht nur Aufgaben wie diese stellen Herausforderungen für ihn dar. Auch das Aushalten von Einsamkeit und Langeweile gehört dazu. "Normalerweise hat man immer zu wenig Zeit, jetzt plötzlich zu viel", sagt Paul und nippt an seinem Kaffee. Eine Stunde lang einfach mal "nur" dazusitzen und Radio zu hören, sei für ihn daher schon ungewohnt gewesen. "Man lebt mehr in seinem Inneren", sagt Paul. Andererseits helfe ihm das auch, kreativ zu sein und beispielsweise über sein Buch nachzudenken.

Derweil geht für seine Frau der Alltag weiter. Wie sie und die beiden Kinder des Ehepaars hätte auch sein Umfeld positiv auf die Idee mit dem Selbstversuch reagiert.

Plötzlich ertönt eine Frauenstimme. "Mitteilung von Kerstin", kündigt Pauls Smartphone den Eingang einer SMS an. Das Gerät sei dank seiner Sprachsteuerung und anderer Apps ein wichtiger Begleiter für ihn, sagt Paul. Ebenso wie der Blindenstock, ohne den er nicht ins Freie geht.

All die Erfahrungen, die er in den acht Tagen macht, seine Gefühle und Gedanken, spricht Paul auf ein Diktiergerät. Neben der Recherche in Büchern und in Gesprächen mit Blinden sowie Ärzten sei es ihm wichtig gewesen, selbst zu erleben, wie es sich anfühlt, nichts mehr sehen zu können. "Schließlich habe ich, wenn ich über dieses Thema schreibe, eine Verantwortung blinden Menschen gegenüber", sagt er. Daher wolle er deren Situation so gut wie möglich beschreiben.

Trotz allem bleibe das Ganze eine Simulation. "Ich kratze nur an der Oberfläche", betont Paul. In die Lebenswirklichkeit eines Blinden könne er sich schon deshalb nicht komplett hineinversetzen, weil er sehr neugierig auf die ungewohnten Situationen sei. "Jemand, der gerade erblindet ist, wäre das vermutlich nicht."              

 Lena Marie Jörger