Die Titel der WRO-Reihe "Politik trifft Wirtschaft" war in Kehl wörtlich zu verstehen (von links): Andreas Truttenbach (RMA-Geschäftsführer), Nicolas Erdrich (Vorsitzender des WRO-Wirtschaftsbeirats), Ökonom Max Otte, Offenburgs Ober­bürgermeisterin Edith Schreiner (WRO-Aufsichtsratsvorsitzende) und Nikolas Stoermer (Erster Landesbeamter des Ortenaukreises). Foto: Achnitz

Vortrag: Ökonom spricht in Kehl über "Europas Wirtschaft im Umbruch" / Kritik an TTIP

Unter dem Titel "Europas Wirtschaft im Umbruch" hat Max Otte, einer der bekanntesten Finanzwissenschaftler Deutschlands, einen Vortrag in Kehl gehalten. Darin schlug er einen Bogen von der Schuldenkrise über TTIP bis zur Immigration.

Kehl. Auf Einladung der Wirtschaftsregion Ortenau (WRO) erläuterte der Ökonomieprofessor vor Unternehmern und Politikern der Region, welche Auswirkungen die Unternehmen durch Zuwanderung, TTIP, Griechenlandkrise und Niedrigzinsen zu erwarten haben und welche Maßnahmen ergriffen werden können.

Auf dem Werksgelände der weltweit agierenden Firma RMA, die vorweg in kleinen Gruppen besichtigt werden konnte, begrüßten RMA-Geschäftsführer Andreas Truttenbach und Nicolas Erdrich, Vorsitzender des WRO-Wirtschaftsbeirats, rund 220 Gäste aus Landkreis und Kommunen, der IHK sowie der Handwerkskammer.

Abschaffung des Bargelds bedeute Freiheitsverlust

Otte schlug einen großen Bogen von der diskutierten Abschaffung des Bargelds bis hin zur weltweiten Finanzkrise, die er als einer von wenigen Fachleuten schon 2006 in einem Buch vorhergesagt hatte. Der Zusammenbruch durch die Schuldenkrise, die nach Meinung des Deutsch-Amerikaners Otte noch lange nicht bewältigt ist, sei seit dem Jahr 2008 mittels der Bereitstellung von immer größeren Geldmengen durch die Zentralbanken zwar zunächst abgewendet worden. Der Zufluss billigen Geldes vergrößere aber das bestehende Wohlstandsgefälle innerhalb der westlichen Industriestaaten – und zwar sowohl zwischen armen und reichen Ländern (weltweit und in Europa) als auch zwischen ärmeren und reicheren Gesellschaftsschichten innerhalb der Staaten.

Die Abschaffung des Bargelds würde einen zusätzlichen Verlust an Freiheit bedeuten: Es sei das einzige sichere, anonyme, freiheitliche und zudem kostengünstige Zahlungsmittel für den einfachen Bürger. Wer das Bargeld abschaffen wolle, habe Interesse an den Daten, die durch digitalen Geldverkehr erhoben würden, und ziele wie E-Commerce- und E-Pay-Unternehmen auf Macht, Kontrolle und Bereicherung durch Transaktionsgebühren.

Wirtschaftliche Konkurrenzen im "imperialen Weltsystem" seien es auch, die in Verbindung mit einer interessengeleiteten Politik zu Konflikten und Kriegen führten. Dies zeige sich auch anhand der Kämpfe in Syrien, bei denen es letztlich um die Ölfelder des Landes gehe. Der Finanzexperte sieht darin den vorläufigen Endpunkt der Versuche der USA, "in Afrika aufzuräumen" und die eigene politische und wirtschaftliche Weltmachtposition auszubauen.

In diesen Kontext stellte Otte auch die TTIP-Verhandlungen zwischen den USA und der Europäischen Union. Das Abkommen führe zum "Anschluss der europäischen Wirtschaft an die Vereinigten Staaten". Denn Firmen wie Siemens, VW oder die Deutsche Bank unterwerfen sich seiner Meinung nach mit einem solchen Vertrag den amerikanischen Wirtschaftsregeln, die sie selbst nicht beeinflussen könnten. Der Ökonom forderte mehr Selbstbewusstsein und mehr Eigenständigkeit der größten Wirtschaftsunion in der Welt, in der er einen "Staatssozialismus" entdecke.

Deutsch-französische Freundschaft als Antrieb

Auch sei die unkontrollierte Einwanderung nach Europa ein unkalkulierbares finanzielles Risiko und erfordere darum die rasche Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes. Mit den Flüchtlingen kämen 70 bis 80 Prozent junge Männer als Wirtschaftsmigranten ins Land. Sinnvoll sei aber eine explizite Auswahl derjenigen, die einwandern. Deshalb sei die Forderung nach Schutz der europäischen Außengrenzen auch kein Rechtspopulismus.

Den Brexit wiederum sieht Otte als einen Glücksfall an. Biete dieser doch die Chance, Europa als politisches Projekt neu zu erfinden. Es müsse wieder ein Europa "von unten" entstehen, als Völker verbindende Idee – vielleicht beschränkt auf das "Kerneuropa" der Gründerstaaten – und angetrieben von der deutsch-französischen Freundschaft. Davon versteht man in Kehl und der Grenzregion Ortenau etwas.