Händels Oratorium mit der Gaechinger Cantorey in Stuttgart Foto: Holger Schneider

In dem Oratorium „L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato“ geht es um eine Versöhnung von Gegensätzen. Das schillernde Werk lässt sich auch als glänzende, ironische Spiegelung des neuen Weges deuten, den die Bachakademie seit 2013 genommen hat.

Stuttgart - Dirigent hat sich verspätet. Vielleicht ist er verschnupft oder steht im Stau. Jedenfalls ist die Situation auf der Bühne unübersichtlich: Musiker und Chorsänger sind da, aber das Pult vor ihnen bleibt leer. Dann geht das Licht aus, und die Musik beginnt – fast wie von selbst. Vom Konzertmeisterpult aus leitet die GeigerinNadja Zwienerdas Concerto grosso op. 6 Nr. 1. Zwei dieser Concerti soll, wie ein Programmzettel der Uraufführung belegt, Georg Friedrich Händel selbst den Teilen seiner Oratorien als Einleitungen vorangestellt haben.

Es ist toll, dass das Abschlusskonzert des Musikfests Stuttgart am Sonntagabend ausgerechnet mit dieser schillernden, vitalen Orchestermusik beginnt, denn so kann sich das neue, historisch informierte Instrumentalensemble der Gaechinger Cantorey ebenso „nackt“ präsentieren, wie es anschließend Händels allegorische „Pastorale Ode“ tut, die von fast jeglicher Handlung entblößt ist.

Aber dazu später. Die Tatsache, dass die Konzertmeisterin nicht als Einzige neben lauter sitzenden Musikern aufrecht steht und solistisch agiert, sondern dass ihr ein Kollege gegenübersteht, ist mindestens ebenso vielsagend wie der von dem dirigentenlosen Vorab-Konzert gelieferte Beweis orchestraler Qualität und Eigenständigkeit. Um einen Dialog wird es gehen, das hört man schon hier, um Gegensätze und um Versöhnung. Und ein Weg muss zurückgelegt werden, bis diese gelingen kann – ein Weg, wie ihn auch Hans-Christoph Rademann zurückgelegt hat, seitdem er 2013 die Leitung der Internationalen Bachakademie Stuttgart von Helmuth Rilling übernahm.

Wer bekommt Recht: der Genussmensch oder der Melancholiker?

Dessen Ensembles Gächinger Kantorei und Bach-Collegium haben mit der neuen Gaechinger Cantorey nicht mehr viel gemein; auch diese Gegensätze, könnte man denken, wurden bei der Aufführung des Oratoriums mitbedacht, deren Hauptteil dann natürlich vom Bachakademie-Chef dirigiert wurde. Und mancher, der den munteren Wettstreit zwischen einem (frei übersetzt) Genussmenschen und einem verdrucksten Melancholiker bei Händel mitverfolgte, mag auch ein ironisches Augenzwinkern in Richtung des schwäbischen Pietismus mitgehört haben. Falsch ist das nicht – überhaupt ist dieses selten gespielte Oratorium ein Wunderwerk an versteckter Ironie. Wenn am Ende Mäßigung und Mittelmaß („Il Moderato“) gepriesen werden, nickt Händel den Friedensschluss zweier Lebenseinstellungen zwar als aufgeklärter Künstler ab, aber nicht nur harmonisch flicht er dem Lob des Kompromisses lächelnd doppelte Böden ein: unterirdische Fluchtwege eines Komponisten, der als Genießer bekannt war.

Zum Glück, denn beim Mittelmaß enden auch alle Vergleichs-Spielereien mit der Situation der Bachakademie. Die Qualität der neuen Gaechinger Cantorey liegt ja gerade darin, dass sie sich auf keine Kompromisse mehr einlässt. Wie weit das Ensemble auf seinem Weg schon gekommen ist, wie fein, wie gestisch, wie genau es (kleinere Koordinations-Unfälle einmal ausgenommen) bereits gemeinsam gestaltet, kann es bei diesem Werk Händels exemplarisch zeigen.

Händels Twitter-Chat und ein sehr stiller Star

Dessen dramatisches Potenzial schöpfen quicke Instrumentalisten und der Tenor James Gilchrist aus, ein Mann des Theaters. Und die vielen Nummern voller wunderschöner Naturlyrik sind Musik für Genießer. Für die schönsten Momente sorgen die sehr gerade, dabei ungemein klangschön singende Sopranistin Gillian Webster und der Traversflötist Georges Barthel in der Arie „Sweet Bird“ als zwei jubelnd-tirilierende Nachtigallen (jovial gesagt, nahm Händel hier heutige Twitter-Chats vorweg).

Das Ende ist reine Harmonie: Tenor und Sopranistin schlingen sich im Duett-Hit „As Steals The Morn Upon The Night“ singend in- und umeinander, das prominent durchsetzte Publikum jubelt ziemlich unmäßig. Nur der stille Star im Orchester, die neue Truhenorgel, hat sich jenseits des dynamisch schön austarierten Orgelkonzerts vor dem dritten Teil ein wenig zu moderat verhalten. Aber irgendetwas muss Hans-Christoph Rademann ja auch noch zu tun übrig bleiben.